Inhalt
Öl auf Leinwand
Die Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden beherbergt eine Gemäldesammlung mit Porträts aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die in Öl gemalten Männer und Frauen – Angehörige der Zellweger- und Honnerlagfamilie, aber auch Unbekannte, Ärzte und Forscher – bieten einen unmittelbaren Zugang zu einer Zeit, als der blühende Textilhandel mannigfaltige Einflüsse ins Appenzellerland brachte, zu einer Zeit, als Trogen in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht ein Zentrum darstellte.
Sechzehn Autorinnen und Autoren, Musikerinnen und Musiker wählten je ein Porträt oder zwei einander zugesellte Gemälde und verfassten dazu einen literarischen oder musikalischen Beitrag. Anders als gewohnt standen nicht wissenschaftliche Faktentreue, nicht die historisch korrekte Verarbeitung von Lebensläufen im Zentrum, vielmehr ging es um eine alternative Geschichts- oder Geschichtenschreibung, um ein fragmentarisches Eintauchen in die Zeit. «Die Mona Lisa von Trogen» ist ein Spiel mit Fakten und Fiktionen, mit Geschichte und Geschichten. Geschichte lebt mit den Menschen, die sie erleben, Geschichte verwandelt sich in Geschichten, Geschichten konstituieren Geschichte, wann immer erzählt und zugehört wird.
Dem zu Grunde liegt ein ganz bestimmter Geschichtsbegriff, der Geschichte nicht als ein Kontinuum von Daten und Taten sieht, sondern als ein Bild, das vom Einzelnen ausgehend, in kleinen, persönlichen Schritten nicht die Vergangenheit der Welt nacherzählt, sondern ein neues, im allerweitesten Sinne transdisziplinäres Weltbild entwirft. Geschichte entsteht so in einer Dichte von Fakten und Fiktionen, von Erzähltem und also Gehörtem, von Erlebtem und Erträumtem, von Vergangenem, Gegenwärtigem und natürlich Zukünftigem.
«Die Mona Lisa von Trogen» geht dem ureigensten menschlichen Bedürfnis nach, die Welt neu zu erfinden und Geschichten zu erzählen. Die Vergangenheit ist die Kulisse unserer Gegenwart, unsere individuelle Geschichte ist ein Teil der Welt.
Die Mona Lisa von Trogen. Fakten und Fiktionen zu Porträts in Öl auf Leinwand. Hrsg. von Karin Bucher und Matthias Kuhn. Herisau: Appenzeller Verlag, 2010 [Farbige Abbildungen, Audio-CD, 88 Seiten, ISBN 978-3-85882-536-0, CHF 38.00]
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Dokubuch «Öl auf Leinwand» mit Impressionen aller drei Veranstaltungen, zusammengestellt von Karin Bucher. Fotos von Thomas Karrer. April 2011
PDF; 3,4 MB
Öl auf Leinwand
Fakten und Fiktionen I
Texte und Musik von Stefan Baumann, Heidi Eisenhut, Giuseppe Gracia, Bruno Pellandini und Sabine Wang
Rezitation von Jürgen Stenzel
Film von Thomas Karrer mit Rudolf Lutz und Karin Bucher
Einführung von Karin Bucher und Matthias Kuhn
Im Rahmen des 3. Trogener Bibliotheksgesprächs vom 10. – 13. Juni 2009
12. Juni 2009, 20 Uhr
Obergerichtssaal, Rathaus, Landsgemeindeplatz 2, Trogen
PRESSE
Appenzeller Zeitung. – Jg. 182, Nr. 136 (15. Juni 2009), S. 37 [jpg]
Assoziativer Zugang zu Ölgemälden
Mit einer spannenden Publikumsveranstaltung des 3. Trogener Bibliotheksgesprächs kann der interdisziplinäre Ansatz der Tagung dokumentiert werden. Dichter, Musiker, Germanisten und Historiker nähern sich Bildern aus der Sammlung der Ausserrhoder Kantonsbibliothek an.
Hanspeter Strebel
Trogen. Die «Übungsanlage» war speziell an diesem Freitagabend im Obergerichtssaal des Zellwegerpalastes am Landsgemeindeplatz. Es galt aus verschiedenen Perspektiven und Disziplinen einen Zugang zu einzelnen, frei gewählten Porträtgemälden im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert aus der gut bestückten Sammlung der Kantonsbibliothek zu finden und diesen dem Publikum im vollbesetzten ehemaligen zellweger'schen Fest- und Bibliothekssaal zu präsentieren. Damit sollte aus Geschichten Geschichte werden (siehe wörtlich).
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Empfangen wurden die Besucher beim langen Aufgang in den Festsaal des gewaltigen Steinpalastes von einem Orgelkonzert mit zeitgenössischen Stücken. Bespielt wurde die heute im Museum Heiden stehende Hausorgel vom St. Galler Musiker und Dozenten Rudolf Lutz. Doch nicht wirklich: Mit der Videoinstallation von Thomas Karrer gelang es, ein weiteres Medium in die Veranstaltung einzubringen. [Abb. 1]
Porträts als Zeitzeugnisse
Zusammen mit Kantonsbibliothekarin und Tagungsleiterin Heidi Eisenhut vorbereitet, eingeleitet und moderiert wurde der Abend von der Szenografin Karin Bucher und vom Künstler Matthias Kuhn, der auf die kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung Trogens im 18. Jahrhundert hinwies, die bis heute Spuren hinterlassen hat. [Abb. 2] Dazu gehören auch die verschiedensten Porträts von Zeitgenossen, die die Kantonsbibliothek noch immer hütet und die für einmal im Zentrum einer Veranstaltung standen, die das am Wochenende beendete 3. Trogener Bibliotheksgespräch eher populär abrundeten. Nicht Wissenschafter waren geladen, sondern Autoren und Musiker, sich einem von ihnen ausgewählten Porträt mit ihren «Waffen» zu nähern.
Den Anfang machte kenntnisreich «Hausherrin» Heidi Eisenhut, die hinter die Beziehung des in der Gemäldesammlung vertretenen «Kriegstreibers» und Preussenkönigs Friedrich II. und des äusserst gut vernetzten Arztes und Multitalents Laurenz Zellweger (dessen Porträt an der Stirnwand des Raums den Anlass überwachte) zu leuchten versuchte. Dabei rückte sie auch Falschinterpretationen zurecht, Visionen und Fiktionen der beteiligten Akteure und späteren Deuter liess sie aber ihren Platz. [Abb. 3]
Eigenwillige Zugänge
Literarisch näherten sich mit je ganz unterschiedlichen Ansätzen die Literatinnen und Literaten Sabine Wang, Bruno Pellandini und Giuseppe Garcia ihren «Gemäldeopfern» an. Sabine Wang war dabei mit ihrem sensiblen und scharfsichtigen Text zur Grossmutter der Palasterbauerin Anna Barbara Zellweger-Zuberbühler am nächsten beim Bild, dessen Darstellerin mit dem omnipräsenten Blick sie den Titel «Mona Lisa von Trogen» verlieh. [Abb. 4]
Bruno Pellandini versuchte mit viel Phantasie, Witz und Augenzwinkern die «Mutter mit Kind», von der man nichts weiss, zum Leben zu erwecken und so etwas wie ein Happy End für eine verschupfte, wenig attraktive Frau mit Klumpfuss herbeizuführen. [Abb. 5] Guiseppe Garcia schilderte mit nochmals anderem Stil die Hintergründe, weshalb der vielseitige Wissenschafter und Palästinaforscher Titus Tobler [Abb. 6], ein Regenerationspolitiker mit ultrademokratischen Ideen, von seinem Porträtisten Carl Gonzenbach ohne den legendären Wanderstab ins Bild gerückt wurde. [Abb. 7]
Interventionen von oben
Zwischen den Lesungen meldete sich immer wieder der auf der Balustrade die Szene überblickende Hamburger Literaturprofessor Jürgen Stenzel mit Auszügen aus den heute kaum mehr nachvollziehbaren physiognomischen Fragmenten von Johann Caspar Lavater und seinem Parodisten Georg Christoph Lichtenberg, besonders erheiternd dessen Interpretationen von (Haar-)Schwänzen. [Abb. 8] Wohltuend im notgedrungen textlastigen Anlass wirkte auch das betörende Cellospiel von Stefan Baumann als musikalischer Zugang zum Thema «Öl auf Leinwand». [Abb. 9] Alles in allem ein eigenwilliger, intelligenter, auch anspruchsvoller Kulturanlass an dem Akteure wie Publikum sichtlich Gefallen fanden. [Abb. 10]
WÖRTLICH
Geschichte(n)
«Geschichte lebt mit den Menschen, die sie erleben, Geschichte verwandelt sich in Geschichten, Geschichten konstituieren Geschichte, wann immer erzählt und zugehört wird.
So entsteht am Schluss das umfassende Geschichtsbuch, natürlich eigentlich ein Geschichtenbuch – das schlicht heissen wird «Eine umfassende Geschichte der Welt» – aus Transkriptionen von Gesprächen und Erzählungen, Romanen, Tatsachenberichten, aus allen möglichen Biografien, aus Audio- und Videoaufnahmen, aus Filmen, aus Büchern und Heften, aus sehr vielen Bildern natürlich, Gemälden und Fotografien, und so weiter.
Es geht damit letztlich um einen ganz bestimmten Geschichtsbegriff, der Geschichte nicht als ein Kontinuum von Daten und Taten sieht, sondern als ein Bild, das vom einzelnen ausgehend, in kleinen, persönlichen Schritten nicht die Vergangenheit der Welt nacherzählt, sondern ein neues, im allerweitesten Sinn ein interdisziplinäres Weltbild liefert. Geschichte entsteht so in einer Dichte von Fakten und Fiktionen, von Artefakten und Visionen, von Erzähltem und also Gehörtem, von Erlebtem und Erträumten, von Vergangenem, Gegenwärtigen und natürlich Zukünftigen.»
Matthias Kuhn in seiner Einführung in die Veranstaltung Öl auf Leinwand
Bilder: Copyright © Thomas Karrer, Trogen
Text: Copyright © St.Galler Tagblatt AG
Öl auf Leinwand
Fakten und Fiktionen II
«Lager und Archiv»
Texte und Musik von Kurt Bracharz, Andrea Kind, Tim Krohn und Anna Trauffer, Michael Stauffer und Matthias Weishaupt
Einführung von Karin Bucher und Matthias Kuhn
4. Juni 2010, 20 Uhr
Bilderlager und -archiv der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden
Zivilschutzanlage Hinterdorf, Trogen
Einladungskarte als PDF
39 Fotos von Thomas Karrer (ZIP, 2 MB)
Unten: Auswahl von neun Fotos, v.o.n.u.: Michael Stauffer, Kurt Bracharz, Tin Krohn und Anna Trauffer, Publikum mit Direktschaltung in den Archivraum, Matthias Kuhn und Karin Bucher, Andrea Kind, Matthias Weishaupt, Impressionen nach der Veranstaltung
Öl auf Leinwand
Fakten und Fiktionen III
«Sammlung und Repräsentation»
Texte und Musik von Tobias Preisig, Ruth Schweikert, David Signer und Peter Weber
Einführung von Karin Bucher und Matthias Kuhn
Anschliessend Buchvernissage «Die Mona Lisa von Trogen» (Appenzeller Verlag, Herisau) und Apéro
17. September 2010, 20 Uhr
Obergerichtssaal, Rathaus, Landsgemeindeplatz 2, Trogen
Einladungskarte als PDF
Appenzeller Zeitung. – Jg. 183, Nr. 219 (20. September 2010), S. 35 [PDF]
Zusätzliche Informationen
Kantonsbibliothek
oder nach Voranmeldung